Wenn Kinder Flunkern, sind Sie schlau! ©stock.adobe.com ValentinValkov
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Wenn Kinder Flunkern, sind Sie schlau!

„Oje, mein Kind lügt, ist da etwas schief gelaufen?“, hinterfragen besorgte Eltern, wenn sie ihre Kinder beim Schwindeln erwischen. Den kleinen Lügenbaronen wächst zwar keine lange Nase wie der Holzpuppe Pinocchio – aber ist es vielleicht doch schon alarmierend? Eine aktuelle Studie der kanadischen Brock University weist dagegen nach, dass es ein Zeichen geistiger Entwicklung ist, wenn Kinder flunkern.

Für die Studie führten die Forscher ein Vertrauensspiel mit Drei- bis Achtjährigen durch. Die Kinder sollten erraten, welches Stofftier sich hinter ihrem Rücken verbirgt – ohne hinzugucken. Die Psychologen spielten ein Geräusch vor, um einen Hinweis zu geben. Dann verließen sie unter einem Vorwand den Raum, forderten das jeweilige Kind aber vorher auf, nicht zu schummeln, sich umzudrehen und nachzuschauen. Im Raum alleine gelassen, konnten die Kleinen sich vor lauter Neugier selten beherrschen. Fast 80 Prozent drehten sich doch um und schauten nach, welches Stofftier versteckt war. 80 Prozent davon bestritten auf Nachfrage, dies getan zu haben, und versuchten es zu verschleiern.

Die energie-BKK ist dem Phänomen nachgegangen und hat ein Gespräch mit Dr. med. Karin Hauffe geführt. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie Tiefenpsychologische Psychotherapie für Erwachsene in Bremen.

 

Durch Schwindeln lernen Kinder Situationen durchzuspielen und vorauszudenken.

 

Portraitfoto
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Wofür ist es ein Indiz, wenn Kinder schwindeln?
Dr. Karin Hauffe:
Es zeigt die gewonnene Fähigkeit der ab-strakten, höheren Form des Denkens bei gesunden Kindern. Es zeugt von Intelligenz, denn auf die Idee, eine Situation zu den eigenen Gunsten zu verdrehen – also bewusst zu lügen – muss ein Kind erstmal kommen. Bewusst und absichtlich zu täuschen, das muss im Laufe der kindlichen Entwicklung gelernt werden und ist ein wichtiger Schritt.

 

Mit welcher Fähigkeit ist das Lügen verknüpft?
Karin Hauffe:
Ab dem zweiten Lebensjahr geht es damit los und die Fähigkeit kommt ins Leben. Dann gebraucht das Kind das Schwindeln zum eigenen Vorteil. Das Gegenüber soll einem Glauben schenken, damit schützt man sich selbst und muss deshalb überzeugend dabei sein. Die Kinder lernen so, Situationen durchzuspielen und vorauszudenken. Wenn die Kinder älter sind, nutzen sie es auch, um ihre soziale Gruppe zu schützen und sich vor sie zu stellen, das haben Kindergartenuntersuchungen nachgewiesen. Einer übernimmt damit die Verantwortung für die anderen und zieht die Aufmerksamkeit auf sich. So übt sich soziales Verhalten ein. Später müssen die Kinder dann wieder lernen, die Wahrheit zu sagen.

 

Ab welchem Alter können Kinder die Tragweite ihres Täuschungsmanövers einschätzen?
Karin Hauffe:
Ab dem fünften Lebensjahr können Kinder unterscheiden, was wahr und unwahr ist. Um die Wahrheit manipulieren zu können, muss man sie kennen. Ab dem sechsten Lebensjahr, also im Grundschulalter, lernen sie, dass sie die Wahrheit sagen müssen und dass es andere Wege gibt, um bei einer Krise wieder die Oberhand zu bekommen. Sie versuchen aufgestellten Regeln zu folgen, oftmals noch mit Hilfe der Erwachsenen. Eltern und Lehrer sind Vorbilder.

 

Was ist die „magische Phase“?
Karin Hauffe:
Von der „magischen Phase“ ist im Alter zwischen zwei und fünf Jahren die Rede. In der Phase ist für die Kleinen alles belebt: Stofftiere, Puppen, Bäume, Tische, Stühle, Besen – alles hat ein Wesen für die Kinder. Grenzen sind verschwommen. Alles ist äußerst interessant kennenzulernen und kann zum besten Freund werden oder zum bedrohlichen Monster in dieser Phantasiewelt, die der Welt von Harry Potter ziemlich ähnelt. Ab dem fünften Lebensjahr treten Kinder in die reale Welt hinein und können Schulanforderungen bewältigen.

 

So eine Fantasiewelt, wie spannend, fast zu schön…
Karin Hauffe:
… in dieser Phase des magischen Denkens sind die Kinder tatsächlich sehr verletzlich. Geht in dieser Zeit ein Elternteil weg, denken Kinder, „ich war das, es liegt an mir, ich bin nicht gut genug“. Sie begreifen sich als Mittelpunkt ihrer Welt, in der nur sie verantwortlich sind. Es ist für sie schwer da wieder herauszufinden und funktioniert meist nur mit Hilfe.

 

Warum lügen Kinder überhaupt?
Karin Hauffe:
Sie wollen Bestrafungen umgehen und so wirken, wie von den Eltern gewünscht.

 

©istockphoto.com/GMVozd
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Schummeln und Schwindeln – Eltern könnten doch stolz sein, auf die kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder. Was raten Sie Eltern?
Karin Hauffe:
Eltern können wirklich zufrieden sein und sollten sich bei spontanen Schwindeleien großzügig zeigen mit weisem Blick und Güte auf das Verhalten der Kleinen, anstatt mit Ängstlichkeit zu reagieren, zu bestrafen und zu verzagen. Daraus entsteht, wie die Kinder später selbst mit sich umgehen. Ob sie zum Beispiel nach Fehlern streng mit sich ins Gericht gehen oder doch eher Fehler als Chance – als Ursprung für Innovationen – sehen.

 

Ein weiser, großzügiger Blick? Was meinen Sie damit?
Karin Hauffe:
Der geht oftmals verloren, wenn Eltern von sich selbst denken, sie seien nicht gut genug.

 

Ab sechs lernen Kinder, dass sie die Wahrheit sagen müssen und es andere Möglichkeiten als Schwindeln gibt.

 

Haben Sie dazu einen Tipp für Eltern?
Karin Hauffe:
Ein funktionierendes Mittel für Eltern ist, sich auf eine höhere „Frequenz“ zu bringen. Damit meine ich, das Herz ganz weit aufzumachen, Liebe bedingungslos zuzulassen und sich zu öffnen. Mit anderen Worten, geben Sie ihr Herz frei, ohne Bedingungen zu stellen. Ich finde, für die eigenen Kinder kann man das gut machen.

 

Woran erkennen Eltern Verhaltensauffälligkeiten in -diesem Zusammenhang?
Karin Hauffe:
Eltern sollten wach werden, wenn sich ihr Kind sehr zurückzieht und den Freundeskreis verlässt. Dann ist etwas nicht in Ordnung und hat Ursachen, die mit den Erwachsenen zusammenhängen. Vielleicht gibt es starke Aggressionen zwischen Mutter und Vater, lautes Schimpfen oder es ist nicht genug Liebe im System. Das spüren Kinder mit jeder Faser und beobachten genau. Die wichtigsten Vorbilder, der Kompass für sie sind die Eltern. Kinder sollten mit anderen Kindern spielen, das ist das Zeichen, dass es ihnen gut geht. Lassen Sie deshalb den großen Rückzug Ihres Kindes, auch das Verkriechen hinter den Computer (häufiger bei Jungs zu beobachten) nicht zu. Eltern sind aufgefordert, das durch Erziehung – mit gemeinsamem Spielen und Geschichtenerzählen – zu korrigieren. Respekt wird durch das Setzen angemessener Grenzen erlernt. Diese wollen Kinder auch haben auf nachvollziehbare Art und Weise, das gefällt ihnen. Es funktioniert prima mit Vorlesegeschichten zu arbeiten, wie der Geschichte von den zwei Wölfen. Kinder sind sehr wache Wesen.
Danke für das Gespräch!


©istockphoto.com/Antonio Diaz
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Ach ja, da wäre noch eine Kleinigkeit, die Geschichte der zwei Wölfe, die Sie gerne anwenden können:
Ein alter Cherokee-Indianer lehrte seinen Enkel über das Leben. „In mir findet gerade ein Kampf statt,“ sagte er zu dem Jungen. „Es ist ein schrecklicher Kampf und er findet zwischen zwei Wölfen statt. Einer ist Wut, Neid, Traurigkeit, Nachtrauern, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Schuld, Groll, Minderwertigkeitsgefühl, Lügen, falscher Stolz, Überlegenheitsgefühl und das Ego. Der andere ist gut, er ist Freude, Frieden, Liebe, Hoffnung, Gelassenheit, Demut, Freundlichkeit, Wohlwollen, Empathie, Großzügigkeit, Wahrheit, Mitgefühl und Glauben. Und derselbe Kampf findet auch in Dir statt und in jedem Menschen.“

Der Enkel überlegte eine Minute und fragte dann seinen Großvater, welcher Wolf denn gewinnen würde. Der alte Cherokee antwortete einfach: „Derjenige, den Du fütterst.“

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