Geschlechtersensible Medizin kann Leben ­retten ©stock.adobe.com ValentinValkov
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Geschlechtersensible Medizin kann Leben ­retten

Lange Zeit diente in der Medizin der Mann als Prototyp des Menschen. Das medizinische Wissen hinsichtlich Krankheitsbild, Diagnose und Therapie orientierte sich an diesem einen Modell: Dem 75 Kilo schweren Mann, auch „One-size-fits-all Model“ genannt. Eine geschlechtersensible Medizin und Forschung könnte jedoch für mehr Gerechtigkeit sorgen und sogar Menschenleben retten. Wir haben uns dazu mit Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer unterhalten.

Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer ist Fachärztin für Innere Medizin und seit 2010 erste Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien. Sie gründete die Gender Medicine Unit. Im selben Jahr übernahm sie auch die Leitung des ersten postgraduellen Universitätslehrgangs für Gender Medicine in Europa. Seit Oktober 2017 ist sie wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Gendermedizin in Gars am Kamp (­Österreich). 2018 wurde sie zur Präsidentin der Österreichischen Diabetesgesellschaft gewählt und gerade in der Kategorie „Gendermedizin“ mit dem Wiener Frauenpreis 2021 ausgezeichnet.

 

 

Frauen haben oft andere Warnsignale, die zum Beispiel auf einen Herzinfarkt ­schließen lassen ...

 

Studien zeigen, dass – bei gleicher Behandlung – rund 20 % mehr Frauen als Männer einem Herzinfarkt erliegen. Woran liegt das?
Prof. Kautzky-Willer:
Männer und Frauen unterscheiden sich biologisch und das kann auch im medizinischen Sinne einen Unterschied bedeuten, also in der Diagnostik und Therapie von Erkrankungen. Frauen haben oft andere Warnsignale, die auf einen Herzinfarkt schließen lassen, wie Schmerzen im Kiefer, im Oberbauch und zwischen den Schulterblättern, Übelkeit, Erbrechen oder Erschöpfung, die nicht oder zu spät entschlüsselt werden. Dadurch verzögert sich die richtige Akuttherapie, oft kommt es sogar zu Fehldiagnosen! Auch ist die Behandlung oft nicht leitlinienkonform. Bei Risikofaktoren erreichen Frauen seltener die Normwerte, was die Lebenserwartung beeinflussen kann.

Im Hinblick auf psychische Erkrankungen sind Frauen dagegen beispielsweise überdiagnostiziert und Männer unterversorgt. Männer sind dadurch stärker suizidgefährdet. Komplexe Beschwerden werden oft zu einfach und leicht erklärt — erledigt.Übrigens, Frauen, die Frauen behandeln, erzielen oftmals bessere Ergebnisse in der diagnostischen Erfassung und im Ergebnis.

 

Woran liegt das, dass Frauen, die Frauen behandeln, öfter besser diagnostizieren?
Die Kommunikation spielt eine große Rolle, das Erfassen des Gesamtbildes, Medikamente, Therapien, da kommen viele Komponenten zusammen. Für Frauen scheint es einfacher zu sein, vorhandene Symptome einzuordnen. Sie fragen einfach mehr und offener auch nach der soziokulturellen Situation der Patienten. Sie leiten daraus Maßnahmen ab, um die Langzeitprognose zu verbessern. Das erfordert ein kontinuierliches Management.

 

Wie sieht es bei der Impfstoff- und Medikamentendosierung aus, wenn sie auf den Einheitsmensch (männlich, 75 Kilo) ausgelegt ist?
Alle Leitlinien sind bisher darauf ausgerichtet. Nach wie vor nehmen weniger Frauen an Medikamentenstudien teil. Das verringert die Aussagekraft. Da sich von Frau zu Frau auch der Hormonhaushalt unterscheidet, beeinflusst das abermals die Aussagekraft. Zyklusphasen machen Studien für die Medikamentenentwicklung aufwändig. Wir brauchen Langzeitstudien, um nachzuweisen, dass Frauen sicherlich niedrigere Medikamentendosierungen bräuchten, denn sie haben einen anderen Anteil an Wasser, Fett- und Muskelmasse. Dadurch verteilen sich im Körper Medikamente anders. Sie werden anders über die Leber abgebaut und über die Nieren ausgeschieden. Die individualisierte Medizin müsste viel mehr Gewicht auf diese Faktoren legen.

 

Was bedeutet genderspezifische Medizin überhaupt?
Der interdisziplinäre, wissenschaftliche Zugang der Gender­medizin erforscht biologische und psychosoziale Unterschiede, die sowohl das Gesundheitsbewusstsein als auch die Entstehung und Wahrnehmung von Krankheiten betreffen. Werden die psychosozialen Faktoren einbezogen, also Lebensweise, kulturelle Gesichtspunkte und das Umfeld von Männern und Frauen und bei unterschiedlichen Altersgruppen, ergeben sich für die Gesundheit wiederum neue Aspekte der Unterschiedlichkeit. Diese Gesamtbetrachtung macht Gendermedizin aus und ist ein Faktor individualisierter Medizin.

©istockphoto.com - Devenorr
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Männer bewegen sich mehr, Frauen ­anders und leider weniger. Dabei sind sportliche Aktivitäten für alle absolut wichtig.

 

Wieso benötigen Frauen, Männer und divers geschlechtliche Menschen eine jeweils andere medizinische Behandlung? Inwieweit spielen Hormone eine Rolle?
Hormone spielen eine sehr große Rolle, besonders bei Frauen in der ersten und zweiten Zyklusphase von der Pubertät bis zur Menopause. Im hohen Alter gleichen sich Männer und Frauen dann wieder stark an. Während der Menopause ändert sich zum Beispiel die Fettverteilung bei Frauen hin zum Bauchfett. Frauen entwickeln dann eher Diabetes, ihr Immunsystem schwächt sich ab und so weiter. Sie durchleben viel stärkere Veränderungen als Männer. Ein echter Stresstest ist auch die Schwangerschaft.

Hormone sind eine spannende Materie. Biologische und genderspezifische Aspekte sind dabei stark verzahnt und nicht so einfach trennbar.

 

Warum fällt es immer noch schwer Männer, Frauen und divers geschlechtliche Menschen bestmöglich zu behandeln. Wo sehen Sie Hemmschwellen?
Wir brauchen wie gesagt, mehr Forschung und mehr Daten, um die bestmögliche Therapie umsetzen und individuelle Risikofaktoren minimieren zu können. Es wird gerade schon besser, auch in der Medikamentenforschung, aber es dauert, besonders im Hinblick auf divers geschlechtliche Menschen. Wir stehen am Anfang der Forschung und gehen bislang biologisch vom binären System – Frauen und Männer – aus.

 

Frauen haben anders Stress als Männer? Wo sind die Unterschiede?
Bei Frauen entsteht Stress eher im privaten und familiären Umfeld. Sie leben öfter mit Mehrfachbelastungen und neigen mehr zum Perfektionsdrang. Ihr Umgang mit Stress ist empathischer angelegt (sie grübeln mehr), Männer sind egozentrischer (sie lassen es raus). Männer geraten aber eher berufsorientiert und nach dem Renteneintritt in Stress. Sie sind weniger kontaktfreudig, Frauen netzwerken mehr. Psychosozialer Stress kann bei Frauen auch das Essverhalten beeinflussen und zu Übergewicht führen. Ihr „emotional eating“, bei dem das Belohnungssystem durch Essen aktiviert wird, ist viel ausgeprägter.

 

Was ist mit Bewegung als ausgleichendem Element?
Männer bewegen sich mehr, Frauen anders und leider weniger. Dabei sind sportliche Aktivitäten für alle absolut wichtig. Frauen kennen sich eher bei Ernährung aus. Männern dagegen fällt es leichter, Gewicht zu verlieren. Frauen machen weniger Mannschaftssport, dabei wäre der angesagt, um Konkurrenzdruck und Kampfgeist zu trainieren. Die Erziehung, die Frauen stärker darauf ausrichtet, gefallen zu wollen, ist hier prägend. Eines ist klar, die durch Stress verursachte Energie muss raus und Bewegung ist dafür das Wundermittel, egal ob Mann, Frau oder Divers. Im Women Health Ressort in Gars am Kamp geht es genau darum. Wir trainieren anwendungsorientiert und einzigartig Bewegung, Ernährung und Balance von Frauen. Ich unterstütze hier als wissenschaftliche Leiterin die Umsetzung neuester medizinischer Erkenntnisse aus der Gender-Medizin in die klinische Praxis.

 

Wie kommt das Wissen zu niedergelassenen Ärzten und in Krankenhäuser? Steht genderspezifische Medizin auf dem Lehrplan an Universitäten?
Gute Frage, das Wissen muss zwar noch wachsen, aber das, was wir wissen, wird im Medizinstudium am Lehrstuhl „Geschlechtersensible Medizin“ vermittelt, zum Beispiel an der Universität Bielefeld (seit 2021), der Charité Berlin und auch bei uns, der Medizinischen Universität Wien. Nur so kann es nach und nach in die Praxis kommen. Darüber hinaus befassen sich immer mehr Fachkongresse, Veranstaltungen und Symposien europaweit mit Gender Medicine, auch in Deutschland und Österreich.

Danke für das Gespräch.

Geschlechtersensible  Medizin
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